Kinder beim Malen begleiten
Aktualisiert: 10. Nov. 2021
Ein Pferd - das bin ich!

Was im Atelier passiert, ist manchen Teilnehmenden und besonders Eltern von Kindern manchmal nicht von Beginn weg klar. Eltern möchten, dass ihr Kind erfährt, wie man malt und zeichnet. Was können die Gründe dafür sein? Weshalb soll das Kind nach der Schule nochmals in die Schule? Existiert ein Freiraum für seine persönliche Entfaltung?
Man muss zuerst die Entwicklung des Kindes im Auge haben und sich fragen, was einem in dessen Begleitung wichtig ist. Ist es wichtig, dass das Kind gerne malt? Ja!
Ist es wichtig, dass das Kind einen Elefanten zeichnen kann, oder einen Baum? Ja!
Ist es wichtig, dass das Kind den Elefanten oder den Baum so zeichnet, wie ich es ihm lerne? Nein!
Das Kind kann den Elefanten oder den Baum bereits malen!
Der Unterschied besteht in der Wahrnehmung, darin, dass wir Erwachsenen das Gemalte stets interpretieren und bewerten wollen.
Ein Beispiel. Die 5 jährige Anja (Name geändert) möchte so gerne ein Pferd malen. Sie fragt mich, ob ich ihr dabei helfe. Ja, natürlich helfe ich dir.
Meine Art zu helfen ist es nicht, dem Kind etwas vorzumalen und es in Schranken zu weisen. Sondern wir beginnen damit, dass sie sich ihre "Pferdefarbe" wählt. In unserem Beispiel ist das Silber. Sie schaut mich erwartungsvoll an. Nun, frage ich sie, ob sie zuerst den Bauch oder den Kopf malen möchte. Sie entscheidet sich für den Bauch. Gut, male einen langen runden Fleck (Oval kennt sie noch nicht). Anja malt einen silbernen Streifen. Ich sage ihr, sie solle mit dem Pinsel rundherum malen, um den Bauch noch etwas grösser zu bekommen. Hier malt sie auf ihre Linie zwei Kreise.
Danach geht es rasch. Sie zieht zielbewusst den "Hals" nach links und malt 3 Beine und einen Schwanz. Dann wählt sie andere Farben und malt zuerst den Himmel, danach an der Figur weiter. Nach einer stillen Malphase, teilt sie sich plötzlich mit:
"Hier sind die Haare, das sind die Schuhe, das sind die Fingernägel - das bin ich!"
Dann malt sie noch symmetrische Figuren und - fertig!
Was ist passiert?
Anja spürte während des Prozesses, dass sie alles darf, was sie möchte und dass es immer richtig ist, was sie macht
Sie hat sich selber bei jedem Schritt selbst entscheiden können
Jeder dieser Entscheidungen und jeder ihrer Pinselstriche war wichtig
Sie wurde darin bestärkt, dass ihr Tun richtig ist
Ihre anfängliche Idee, ein Pferd malen zu wollen (vielleicht um daheim Lob zu erhalten?), veränderte sich dahin, dass sie sich selbst darstellten wollte
Sie malte in einem Fluss und zeigte Freude beim Tun
Sie entwickelte stets neue, ungeplante Figuren, die sie dann benannte
Sie war nicht abgelenkt und völlig bei sich selbst
Sie war sehr sorgfältig im Umgang mit den Materialien
Anja arbeitete zielstrebig und ausdauernd
Wie lässt sich dieses Bild interpretieren?
Das Bild ist in erster Linie eine Momentaufnahme
Es soll nicht interpretiert werden und muss auch nicht herumgezeigt werden
Es zeigt auch nicht unbedingt das effektive, handwerkliche Können von Anja
sondern:
Das Bild ist Ausdruck eines freien, schöpferischen Gestaltungsprozesses
Anja weiss, dass ein Pferd 4 Beine hat, doch in dem Moment ist das nicht wichtig
Anja konnte während dieser Malzeit ohne Ablenkung von aussen malen
Sie konnte ihre Malbegeisterung frei leben, ohne äussere Beeinflussung
Sie zeigte Ausdauer
Sie überwand ihre anfängliche Unsicherheit
Sie machte einen wichtigen Entwicklungsschritt in Richtung Selbstvertrauen
Sie orientierte sich nicht an anderen Kindern, sondern malte ihre eigene Welt
das Gemalte ist wichtig, so wie es ist - ein kreativer und spontaner Ausdruck von schöpferischer Freiheit - eine Momentaufnahme - ein Ausdruck von Glück
gut zu wissen:
das Malen mit dem Pinsel an der Wand stellt völlig andere Ansprüche an den
Malenden als das Malen am Tisch, deshalb wirken die Bilder oft weniger weit
entwickelt, als Zeichnungen. Das hat nichts mit dem Können des Kindes zu tun,
sondern mit der Technik
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